Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf.

Heute möchte ich mit euch teilen, was meiner Erfahrung nach am entscheidendsten ist auf dem Weg der Heilung – und das ist die Liebe zur Wahrheit. Wenn es etwas gibt, das für den eigenen Heilungsverlauf ausschlaggebend ist, so ist es die Fähigkeit, ehrlich zu sich selbst zu sein. Wir können uns (um ein berufliches Beispiel zu nehmen) unzählige Strategien überlegen, die Jobs wechseln, Geld in einen (noch) besseren Web-Auftritt investieren u.a., wenn wir dabei die innere Arbeit und das Ehrlichsein vernachlässigen, werden all diese Aktionen nichts oder nicht dauerhaft fruchten. Heilung und Wachstum erfolgen von innen nach aussen. Das Eine (äusserer Erfolg, persönliches, berufliches und seelisches Wachstum) ist die Folge bzw. Frucht dessen, inwiefern wir es wagen, immer ehrlicher zu uns selbst und authentisch gegenüber anderen zu sein.

Ehrlichkeit heilt

Was meine ich mit Ehrlichkeit? Ich meine damit in erster Linie ehrlich zu sein in Bezug auf das, was ihr JETZT gerade fühlt, denkt und erlebt. Wir alle glauben oftmals, wir müssten nur stark genug sein und hart genug für unsere Ziele arbeiten, um im Leben irgendwie vorwärtszukommen. Tatsächlich – und das klingt vielleicht für unseren Verstand paradox – ist es so, dass sich erfahrungsgemäss erst dann etwas in unserem Leben zum Positiven verändert, wenn wir uns unsere Schwächen, unsere Verletzlichkeit und unsere Bedürfnisse ehrlich und vorbehaltlos eingestehen und lernen, gut für uns zu sorgen.

Der ungestillte Schrei nach der Mutter

Ich bin auf meinem eigenen Heilungsweg lange Zeit in eben diese Falle getappt, indem ich in privaten, wie beruflichen Beziehungen dachte, mich nur genügend anstrengen, anpassen, geben oder verzichten zu müssen, um irgendwann (in ferner Zukunft) den erhofften „Lohn“ – die ersehnte Anerkennung, Wertschätzung, Liebe oder Erfüllung empfangen und erfahren zu können. Doch dieses „Wenn-Dann-Denken“ bleibt eine Falle und ist eine Illusion, wenn dabei die Wahrhaftigkeit auf der Strecke bleibt. Irgendwann im Verlaufe unzähliger Therapiestunden und noch mehr Weiterbildungen musste ich mir eingestehen, dass sich im Grunde genommen mein ganzes Leben darum gedreht hatte, in anderen Menschen endlich die guten, liebevollen, nährenden und schützenden Eltern zu suchen, die ich als Baby und Kleinkind so schmerzlich vermisst hatte. Doch dies war mir in jener Zeit natürlich nicht bewusst!

Selbstverständlich war mir als Studentin und später als Psychologin klar, dass einschneidende Erlebnisse (z.B. eine schwere Krankheit oder der Tod eines Elternteiles, oder Unfälle, frühe Operationen, Gewalt- und Missbrauchserlebnisse etc.) einen Menschen stark verletzen und ihm/ihr das Leben schwer machen können, und ich erforschte Wege, solche Verletzungen bei mir und anderen zu heilen. Was mir jedoch damals nicht oder nur auf intellektueller Ebene bewusst war ist, welch immensen Einfluss die allerersten Lebensjahre und die Bindung oder das Fehlen einer gesunden und sicheren Bindung mit der Mutter auf uns und unser Er-Leben haben! Denn in kaum einer anderen Zeit sind wir so offen und empfänglich und abhängig von einem anderen Menschen, wie in diesen ersten Jahren.

Und es sind genau diese ungestillten grundlegenden vitalen Bedürfnisse und Wünsche des kleinen Babys und Kleinkindes, welches wir einst waren, für die wir uns in aller Ehrlichkeit wieder öffnen lernen dürfen, wenn wir in der Tiefe heilen und uns weiterentwickeln wollen. Es gibt keine Abkürzung auf dem Heilungsweg! Jemand mag oberflächlich gesehen vielleicht ganz erfolgreich erscheinen; solange das kleine hilflose Baby aus Kindertagen in der betreffenden Person verletzt und unbeachtet bleibt, wird er oder sie tief innen irgendwie immer unerfüllt bleiben oder die eigenen schrecklichen Erfahrungen in der einen oder anderen Form wiederholen und weitergeben.

Werdet wie die Kinder …

Es ist deshalb wirklich entscheidend, uns einzugestehen, dass wir in Partnern, nahen Freundschaften, Chefs oder sogar auch den eigenen Kindern oft die liebevolle, schützende Mamma oder den fürsorglichen Papa suchen, der uns früher gefehlt hat. Dieses Eingeständnis erfordert viel Mut und Ehrlichkeit, uns selbst gegenüber. Das Ego wehrt sich entschieden dagegen, Anteile von uns als so hilflos und abhängig zu erleben!

Das Karl Marx zugeschriebene Zitat zu Beginn dieses Blogbeitrags bringt es, meiner Meinung nach, treffend zum Ausdruck: „Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf.“ Heilung kann bedeuten, dass wir „Nein“ sagen lernen, unsere Grenzen achten und uns aus verletzenden Beziehungen und Situationen lösen. Sehr oft können wir ungesunde Beziehungen oder belastende Situationen jedoch erst dann verlassen und etwas zum Guten verändern, wenn wir uns schonungslos ehrlich eingestehen, wie traumatisiert unsere Eltern waren und wie traumatisierend unsere Kindheit gewesen ist. Unser aller Lernen – das wir als Heilung und inneres Wachstum bezeichnen – geht vielleicht dahin, fühlend anzuerkennen, dass wir uns in manchen Momenten unseres Lebens wie kleine hilflose, verletzte und enttäuschte Kinder fühlen, die Verwirrung, Schmerz oder Todesangst empfinden. Und uns dann zu erlauben, all diese Empfindungen und Gefühle einfach in uns da sein zu lassen, sie zu empfinden und wieder vergehen zu lassen und dabei, so gut wir es eben können, empathisch, präsent und liebevoll zu sein …

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