Das Ich auf dem spirituellen Weg

Mein Lehrer in Psychopathologie in meinem Psychologiestudium war Prof. Christian Scharfetter. Scharfetter war ein außergewöhnlicher Mensch, Forscher und Lehrer. Ein ausgezeichneter Psychiater und Wissenschaftler, der in einer Zeit, als Spiritualität, spirituelle Krisen und Bewusstseinsentfaltung noch kaum Gegenstand wissenschaftlicher Erforschung und Therapie waren (innerhalb der Psychiatrie, Psychopathologie und Therapie), den Mut hatte, das Thema Spiritualität zu lehren, zu erforschen und darüber zu schreiben.

Unter Spiritualität verstehe ich eine Ausrichtung des gesamten Lebens auf eine, das Individuum und den Egozentrismus überschreitende Ebene, die ich als die Geistige Ebene, das Grosse Ganze oder das (im überkonfessionellen Sinne) Göttliche bezeichne. Unter dem spirituellen Weg verstehe ich die Bewusstseinsentfaltung hin in dieses allumfassend Eine. In der Tiefe geht es beim spirituellen Weg ums Loslassen und um Demut. Loslassen von Prägungen aus der Vergangenheit, von Identifikationen, Wünschen und Abneigungen. Das eigene Ich und die eigene Körperlichkeit immer wieder zu relativieren zugunsten einer zunehmenden Verbundenheit mit dem All-Einen und einer bedingungslosen, allumfassenden Akzeptanz, Freude und Liebe. Aus der christlichen Religion kennen wir die Worte DEIN WILLE GESCHEHE und kürzlich habe ich sie in einer wunderbar erweiterten Form gehört, als ein DEIN WILLE GESCHEHE DURCH MICH. Es braucht viel Demut, um unseren Ego-Willen in den Dienst oder in Resonanz mit einer größeren übergeordneten Kraft zu stellen, und darin scheint mir eine der wesentlichsten Aufgaben und Herausforderungen zu liegen von Menschen auf dem spirituellen Weg. Wir werden eingeladen, Demut und Mut (interessanterweise ist in dem Wort Demut das Wort Mut bereits enthalten) ganz bewusst zu entwickeln und zu nähren, um uns dem Absoluten Unbekannten zu öffnen und der Stimme des Herzens und den Impulsen dieser größeren Dimension folgen zu können.

Schmerz, Trauma & Überlebensstrategien

Wie nun hängen Trauma, Heilung und Spiritualität zusammen? Scharfetter führt in einem seiner Bücher sehr treffend aus, dass es ein starkes Ich braucht, um dieses Ich auf dem spirituellen Weg im Verlaufe der eigenen Entwicklung wieder „loslassen“, bzw. sich weiten und relativieren lassen zu können. Betrachten wir uns die kindliche Entwicklung, so befindet sich das Baby im Mutterleib zunächst in Symbiose mit seiner Mutter. Es nimmt die Nahrung seiner Mutter auf, ihre Hormone, es schwingt mit ihrem Herzschlag und Puls etc. Es nimmt wahr bzw. spürt ungefiltert, ob die Mutter beispielsweise entspannt, freudig, traurig oder wütend ist und es kann zunächst nur sehr bedingt zwischen sich und der Mutter unterschieden.

Nach und nach entwickelt das Kind dann zunehmend ein Gefühl für die eigene Individualität und für sein Ich. Es fängt an, sich mit dem Namen, mit dem es angesprochen wird, zu identifizieren, aber auch mit Zuschreibungen von Seiten der Eltern, mit Wünschen und Verboten und mit eigenen Gedanken, inneren Bildern, dominanten Körperempfindungen und Gefühlen etc. Es spürt und entwickelt ein erstes Bewusstsein über den eigenen Willen, möchte ihn ausleben, erforschen und erproben (siehe Trotzphase). Alle diese Erfahrungen mit seiner Innenwelt und Umwelt prägen und formen das Kind und machen es einzigartig, wobei es selbstverständlich bereits als ein individuelles und einmaliges Wesen auf die Welt gekommen ist.

Nun gibt es aber auch sehr intensive und schmerzhafte Empfindungen im Leben eines Embryos, Babys oder kleinen Kindes, die oftmals unbewusst sind und die es zu unterdrücken/kontrollieren oder zu vermeiden versucht. Etwas im Kind wehrt sich verständlicherweise gegen solch‘ schmerzhaften Erfahrungen und eine existentiell bedrohliche Realität. Wenn Mutter und/oder Vater (offen oder verdeckt) ein „Nein“ zu ihrem Kind haben und selber stark traumatisiert sind, entwickelt es Überlebensstrategien, um mit dieser brutalen Realität einigermaßen zurecht zu kommen. Es idealisiert Mutter oder Vater und nimmt nur gerade so viel Bedrohliches von ihnen wahr, wie es verkraften kann, weil es in den ersten Lebensjahren in ganz besonderem Masse auf eine feste (und möglichst „gute“ = liebevolle, nährende, stützende und schützende) Bezugsperson angewiesen ist und ohne Bindung nicht überleben kann. Es lebt aber dadurch leider auch immer weniger aus seinem gesunden Kern heraus und kann seinen freien gesunden Willen immer weniger nutzen und zum Ausdruck bringen.

Schmerzhafte Erlebnisse, Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen, die ständig und über Jahre hinweg unterdrückt werden mussten, erfordern viel Kraft und Energie, die dem Leben und der Selbstentfaltung nicht mehr wirklich zur Verfügung stehen. Früh traumatisierte Menschen fühlen sich deshalb auch in ihrem späteren Leben oftmals bedroht, innerlich gestresst und erschöpft, da sie unbewusst ständig gegen diese bedrohlichen Körperempfindungen, Erinnerungen, widersprüchlichen und intensiven Gefühle und Impulse in sich ankämpfen.

Traumaheilung, Bewusstseinsentfaltung & Spiritualität

Traumaheilung wie ich sie verstehe, hat viel zu tun mit Zulassen. Bewusstes und dosiertes Zulassen der verdrängten schmerzhaften und bedrohlichen Körperempfindungen, Emotionen, Erinnerungen und ungestillten Bedürfnisse, die in der Vergangenheit unterdrückt und an einem befreiten Ausdruck gehindert wurden. „All das erlebe und fühle ich gerade. Das ist jetzt gerade meine schmerzhafte Realität!“ Und indem wir unsere traumatischen Erfahrungen annehmen und bewusstwerden lassen, erstarkt gleichzeitig unser Ich. Ein schwaches, fragiles oder unsicheres Ich ist im Gegensatz dazu wie ein zerbrechliches kleines Gefäß, das nur sehr wenig Inhalt fassen kann, dessen Wände (Grenzen) brüchig sind oder das immer wieder überfliesst. Personen mit einem unsicheren oder schwachen Ich wissen oft nicht so recht, wer sie sind und was sie möchten. Sie haben Mühe zu entscheiden und in die Handlung zu kommen. Oder sind ständig in Aktion und können kaum geniessen und zur Ruhe kommen. Menschen mit einem instabilen oder schwachen Ich haben Mühe, zwischen sich und anderen zu unterscheiden, sich gegen Angriffe, Manipulationen oder schädliche Einflüsse abgrenzen bzw. sich für neue, gesunde und schöne Erfahrungen öffnen.

Ein starkes Ich hingegen ist wie ein grosses, stabiles Gefäß, mit dicken Wänden, das seinen kostbaren Inhalt (Gefühle, Körperempfindungen, Gedanken, Bedürfnisse u.a.) sicher in sich tragen kann. Menschen mit einem starken Ich haben akzeptiert, dass auch die schmerzhaften Erfahrungen aus ihrer Kindheit zu ihnen gehören. Sie können immer mehr zwischen Illusion, Wunsch und Wirklichkeit, zwischen Ich und Du unterscheiden, Gefühle, Bedürfnisse, Grenzen und Schwierigkeiten etc. wahrnehmen und verbalisieren und gesunde erwachsene Beziehungen mit anderen Menschen pflegen. Menschen mit einem starken Ich sind offen für lebendige Beziehungen, Kommunikation und gemeinsamen Austausch, weil sie bereit sind, gut für sich zu sorgen und auf die Sprache des Lebens zu hören.

DEIN WILLE GESCHEHE DURCH MICH

Therapie und Traumaheilung – wie ich sie verstehe – trachtet danach, Ratsuchende zu stärken und zu ermutigen. Die Fähigkeit zur Selbst- und Fremdwahrnehmung wird vertieft, indem Körperempfindungen, Emotionen, motorischen Bewegungsimpulse, Bedürfnisse, Fantasien etc. immer feiner und bewusster wahrgenommen und auf stimmige, nuancierte und dosierte Weise zum Ausdruck gebracht werden.

Heilung hat in meinen Augen viel zu tun mit Einsicht, wertfreier Akzeptanz, Empathie, Selbstverantwortung und Bewusstwerdung. Doch Gesundheit verfolgt keinen Selbstzweck! Körperliche und psychische Gesundheit sind wirklich ein sehr kostbares Gut und eine wichtige Voraussetzung für den weiteren Weg, jedoch nicht das Endziel – die Reise geht immer weiter …

Die Erfahrung hat mir gezeigt, dass je reifer ein Ich oder eine Seele sind, je drängender wird der innere Ruf und Drang, immer weiter zu wachsen an Bewusstsein und Schöpferkraft und desto eher nimmt dieser Mensch wahr, dass er nicht der alleinige Dreh- und Angelpunkt allen Geschehens ist, sondern dass er Mitschöpfer ist, eingebunden in vielfältigste Beziehungen, Wirkkräfte, Rhythmen und Zyklen und in eine das Individuum überschreitende Grosse Ebene. Und es ist ein solches Ahnen, Sehnen, Suchen und Bewusstwerden mit jener Ausrichtung auf diese, den eigenen Egozentrismus relativierende Realität, die Menschen auf dem spirituellen Weg kennzeichnen. An diesem Punkt der eigenen Heilung, Selbsterkenntnis, spirituellen Entwicklung und menschlichen Bewusstseinsentfaltung relativiert sich das eigene Ich und die Identifizierungen mit der erlebten Vergangenheit immer mehr und wir werden auf allen Ebenen unseres Seins erkennen und erfahren, was die Worte DEIN WILLE GESCHEHE DURCH MICH in ihrer Tiefe für uns als Menschheitsfamilie und Gemeinschaft und für jeden Einzelnen von uns bedeuten.